„Nebenan“ von Kristine Bilkau
Die Autorin Kristine Bilkau ist gebürtige Hamburgerin und hatte
bereits mit ihren letzten Romanen „Die Glücklichen“ und eine
„Liebe in Gedanken“ großen Erfolg. In ihrem neuen Roman
„Nebenan“ beweist sie erneut ihre Meisterschaft in dem
Aufspüren und der Darstellung von feinsten Rissen in unseren
Wahrnehmungen und ambivalenten zwischenmenschlichen
Gefühlen. Der Ort des Romans ist ein absterbendes kleines Dorf
am Nord-Ostsee-Kanal, zwischen Natur, Kreisstadt und
Industrie. Mitten aus dem Alltag heraus verschwindet kurz vor
Weihnachten eine Familie spurlos. Das verlassene Haus wird zum
gedanklichen Zentrum der Nachbarn: Julia, Ende dreißig, die
sich vergeblich ein Kind wünscht, die mit ihrem Freund erst vor
kurzem aus der Großstadt hergezogen ist und einen kleinen
Keramikladen mit Onlineshop betreibt. Astrid, Anfang sechzig,
die seit Jahrzehnten eine Praxis in der nahen Kreisstadt führt und sich um die alt
gewordene Tante sorgt. Und dann ist da das mysteriöse Kind, das im Garten der
verschwundenen Familie auftaucht. Sie alle kreisen wie Fremde umeinander,
scheinbar unbemerkt von den Nächsten, sie wollen Verbundenheit und ziehen sich
doch ins Private zurück. Und sie alle haben Geheimnisse, Sehnsüchte und Ängste.
Ihre Wege kreuzen sich, ihre Geschichten verbinden sich miteinander, denn sie
suchen, wonach wir alle uns sehnen: Geborgenheit, Zugehörigkeit und Vertrautheit.
»Nebenan« ist eine feinsinnige Geschichte über das langsame Verschwinden
natürlicher Beziehungen und die Entstehung einer sich entfremdeten Gesellschaft.
2021 wurde »Nebenan« im Rahmen der Vergabe der Hamburger Literaturpreise als
bester Roman ausgezeichnet. Das Buch erscheint am 8.März 2022 im Luchterhand
Verlag und kostet 22 €
Ich freue mich sehr, dass ich Kristine Bilkau für eine Lesung
aus ihrem neuen Roman am 21.April 2022 gewinnen konnte.
Sie findet um 19.30 Uhr auf DECK 2 statt. Der Eintrittspreis
beträgt 12 €.
Um Anmeldung wird gebeten.
„Die Kinder sind Könige“ von Delphine de Vigan
Delphine de Vigan ist eine französische Autorin, die mit ihren
Werken beharrlich versucht hinter die Fassade einer Welt zu
blicken, die auf reeller und symbolischer Gewalt beruht. Bereits
in ihren vorherigen Romanen hat sie sich mit unterschied-lichen
Ausformungen der Gewalt befasst. Die Bücher von de Vigan
lösen während des Lesens oft etwas Unruhiges aus. Der
Schreibstil ist dicht, kurz und prägnant. Sie versteht es dem
Lesenden mitunter gekonnt in die Magengrube zu schlagen.
In ihrem neuen Roman, der im Jahre 2030 angesiedelt ist, setzt
sie sich mit einer Form der Gewalt auseinander, die sie darin
sieht, wenn Eltern der sog. „BigBrother-Generation“, ihre
eigenen Kinder auf YouTube oder ähnlichen Kanälen 24 Stunden
der Öffentlichkeit preisgeben. Zum einen um damit Geld/
Millionen zu verdienen, indem die Kinder dazu benutzt werden
Konsumartikel zu platzieren, zum andern, um das eigene Egobedürfnis und die
Sehnsucht nach „Klicks und Likes„ zu befriedigen. Es ist eine juristische Grauzone,
die die Autorin hier beleuchtet, denn das Filmen der Kinder durch ihre Eltern fällt
juristisch weder in die Rubrik „Kinderarbeit“ wie z.B. in der Filmindustrie, noch stellt
es auf den ersten Blick eine Verletzung des Kindes-wohls dar. „Denn die Kinder
haben doch so viel Spaß dabei! Und überhaupt; es ist privat!“
Der Plot des Romans ist wie ein Krimi aufgebaut. Durch die Entführung eines kleinen
Mädchens zeigt de Vigan geschickt das Ausmaß dieser Übergriffigkeit bis hin zur
psychischen zerstörerischen Gewalt. Ein spannendes und sehr nachdenklich
machendes Buch.
Der Roman erscheint am 14.3.2022 im Dumont Verlag und kostet 23 €
“Judith und Hamnet”, von Maggie O`Farell
Womans Price for Fiction
Schon zu Beginn des neuen Jahres ist dieser berührende Roman
ein absolutes Highlight. Es ist die historisch detailreiche
Geschichte aus dem frühen Leben von William Shakespeare,
erzählt aus der Perspektive seiner älteren und feinsinnigen Frau
Agnes. Wir erleben Shakespeare, als Sohn eines jähzornigen und
betrügerischen Handschuhmachers, seine Verliebtheit, seine
ersten Ehejahre, die Geburten der Kinder und den Beginn seiner
Karriere als Dramatiker in London, vor allem aber nehmen wir
beim Lesen Anteil an der unendlichen Trauer von Eltern über den
Verlust eines Kindes. Hamnet, der Zwillingsbruder von Judith,
verstirbt an der Pest. Während Agnes daran zu zerbrechen
droht, lässt Shakespeare ihn im Hamlet weiterleben. Aus
Geschichte wird Literatur. Es gibt in diesem Buch so viele
berührende Stellen, dass es ratsam ist ein Taschentuch in
Reichweite zu haben. Der Literaturpreis für diesen Roman ist hochverdient.
Das Buch ist erschienen 2020 im Piper Verlag und kostet 22 €
„Annette, ein Heldinnen-Epos“ von Anne Weber
Deutscher Buchpreis 2020
Berufen zum Widerstand, berufen dazu Minderheiten, Hilflosen
und Ausgegrenzten zu helfen, so ist das Leben der Ärztin und
Mutter Anne Beaumanoir. Anne Weber hat ihre Geschichte in
sprachlicher und gedanklicher Dichte so hervorragend
wiedergegeben, dass man sich ihrem Sog nicht entziehen kann.
Dabei legt die Autorin zuweilen ein frechen und lakonischen Ton
an den Tag, wenn sie uns als Leser über französische Geschichte
so nebenbei „belehren“ will . Dies mag vielleicht nicht jedem
gefallen, mich hat es nicht gestört -eher im Gegenteil- ich fühlte
mich vis-á-vis mit Anne Weber. Obwohl der Roman in
wunderschöner Prosa geschrieben ist, so ist der Text in seiner
äußeren Form gestaltet wie ein Langgedicht. Wozu diese Form?
Wohl zum einen, weil nach der Vorstellung der Autorin die
Hauptfigur einer Heldinnendichtung würdig ist, aber zum
anderen macht es etwas mit uns während wir lesen. Unser Auge fliegt nur so über
die Zeilen und das Tempo erhöht sich.
Der Text, der ohnehin schon sehr verdichtet ist nimmt noch einmal zusätzlich Fahrt
auf. Anne Weber ist nicht die Erste, die in dieser Art erzählt. Bereits Sarah Crossan
und David Foenkinos haben damit schon sehr erfolgreich ihre Romane oder auch
Versnovellen verfasst. Wer diese Form aber als störend empfindet, dem sei das
Hörbuch sehr zu empfehlen.
Das Buch ist erschienen 2020 bei Matthes & Seitz und kostet 22 €;
Das Hörbuch ist eingelesen mit der wunderbaren Stimme von Christina Puciata, 5
CDs, Audioverlag 22 €
„Schnee in Amsterdam“ von Bernard MacLaverty
Um den nordirischen Autor MacLaverty war es sehr lange still,
umso mehr habe ich mich gefreut als 2018 endlich wieder ein
Buch von ihm erschien und meine Erwartungen wurden nicht
enttäuscht. Ein älteres irisches Ehepaar reist für ein Wochenende
nach Amsterdam. Schon nach wenigen Seiten ahnen wir als
Leser, dass diese Ehe voller Narben ist und vor einem Abgrund
steht. Mit messerscharfer Beobachtung und psychologischem
Gespür schaut der Autor auf das Leben dieser zwei Menschen
und spürt die Situationen auf, in denen das gemeinsam Erlebte,
sie auf unterschiedliche Wege führte. MacLaverty hat ein
schlichtes, unsentimentales und lebenskluges Buch geschrieben
in dem irgendwann - zum Glück - auch
Schnee in Amsterdam fällt.
Schnee in Amsterdam erschienen 2018 im Beck Verlag 22 €; als Taschenbuch bei dtv
erschienen 2020 für 11,90 €
„Wolgakinder“ von Gusel Jachina
Meine Mutter ist in Tiblissi (Tiflis/Georgien) als Kind von
Wolgadeutschen geboren. Um 1900 gab es ca. 600.000 deutsche
Siedler, die auf einem Gebiet so groß wie Belgien an der Wolga
entlang lebten. Meine Mutter ist im Alter von sechs Jahren von
dort geflüchtet und sie und die Großeltern hatten viele
Erinnerungen im Gepäck. Für mich gab es also Grund genug
dieses Buch in die Hand zu nehmen. Was für ein Glück! Mit
märchenhafter Fabulierlust, die mich zum Teil an Kafka,
Murakami und auch Haratischwilli erinnert, habe ich die
Geschichte des Dorfschullehrers Bach gelesen, der an der Wolga
in einem Dorf namens Gnadental lebt und sich auf höchst
verwunderliche und sehr seltsame Art in seine Schülerin Klara
Grimm verliebt. Jachina erzählt von einer untergegangenen Welt
– der Wolgadeutschen und ihrer unabhängigen sowjetischen
Republik. Der Roman umfasst eine Zeitspanne von 1915 bis 1945 anhand eines
berührenden menschlichen Schicksals. Der Roman hat für mich auch ein paar
Schwächen gehabt, so verändert Jachina bei bestimmten Kapiteln, wo politische
Ereignisse im Vordergrund stehen, den Schreibstil
und man holpert beim Lesen etwas hinterher. Aber insgesamt gesehen hat das für
mich nicht die Qualität des Buches gemindert. Großes Kopfkino an der Wolga !
Das Buch ist 2019 im Aufbau Verlag erschienen und kostet 24,00 €
„Offene See“ von Benjamin Myers
Wer „Ein Monat auf dem Land“ von Carr oder „Stoner“ von
Williams gerne gelesen hat, dem wird auch dieses Buch gefallen.
Rückblickend erzählt wird die Geschichte einer ungewöhnlichen
Freundschaft, unmittelbar nach dem zweiten Weltkrieg, zwischen
dem 16jährigen Bergwerkssohn Robert und Dulcie einer sehr viel
älteren Frau. Bevor Robert, wie schon sein Vater in den
Grubenschacht einfahren muss, will er noch auf Wanderschaft
gehen. Er will Nordengland durchstreifen bis hin zum offenen
Meer – seinem Sehnsuchtsort. Auf der Wanderung trifft er Dulcie
vor ihrem kleinen Cottage. Dulcie ist unverheiratet,
selbstbewusst, ohne Blatt vor dem Mund, klug, belesen,
kultiviert und verfügt über ein Geheimnis. Während ihres
Kennenlernens weckt sie in dem jungen sensiblen Robert,
Horizonte, Möglichkeiten und Lebensziele, die sich dieser schon
bedingt durch seine Herkunft, niemals hätte zu eigen machen können. Aber auch
Robert bringt mit seinen Gedanken und seiner Art, Wärme in Dulcies Leben. Der
Roman ist eine Geschichte über die Kraft der Sprache, die Liebe zur Literatur und der
rauhen Landschaft Nordenglands.
Es gehört für mich zu den schönen „stillen“ Büchern.
Das Buch ist erschienen 2020 im DuMont Verlag und kostet 20,00 €
Zum Schluss möchte ich Ihnen zwei außergewöhnliche Bücher vorstellen.
Außergewöhnlich, weil mich diese Romane sowohl abgestoßen als auch unerklärlich
angezogen haben.
„Das wirkliche Leben“ von Adeline Dieudonné
Dieser Roman ist das Debut der belgischen Autorin. Er wurde mit
14 Literaturpreisen
überhäuft und ist mittlerweile in 20 Sprachen übersetzt worden.
Im Mai 2020 hat Matthias Brand dieses Buch im literarischen
Quartett vorgestellt und
hochgelobt. Er hat den Roman als „spannende Horrorgeschichte“
bezeichnet, Thea Dorn sah darin ein grausames Märchen und
hielt es für die beste Neuerscheinung des Jahres.
Worum geht es? Ein junges Mädchen versucht voller Hingabe ein
Unfalltrauma, welches ihr kleiner Bruder erlitten hat, zu heilen.
Doch wie soll sie sein Lachen wieder herbeizaubern, wenn ein
Gewaltmonster von Vater zuhause am Tisch sitzt und das
Gesicht der Mutter in das Puree schlägt, bis der Teller in
Scherben bricht. Wie kann sie es schaffen, wenn sie fürchten
muss, dass auch der Bruder immer mehr Gefallen an der Gewalt bekommt? Auf einer
zweiten Ebene ist dieser Roman auch ein Entwicklungsroman eines
bildungshungrigen Teenagers, der die Zeit zurückdrehen möchte und sich in
Liebesdingen völlig verstrickt hat.
Es ist ein düsterer Roman, mit einer brachial direkten Sprache, der sich aber
spannend wie ein Krimi liest und zwischendurch gespickt ist mit eiskaltem Humor
und fantastischen Sätzen:
„ Es heißt, dass die Stille, die auf Mozart folgt, immer noch Mozart ist.“
Das Buch ist 2020 bei dtv erschienen und kostet 18,00 €
„Was man sät“ von Marieke Rijneveld
International Booker Price 2019
Rijneveld hat mit gerade einmal 26 Jahren einen unglaublich
harten, kaum zu ertragenen Roman geschrieben.
Kurz vor Weihnachten bemerkt die 10jährige Jas, dass der Vater
ihr Kaninchen mästet. Sie ist sich sicher, dass es zu Weihnachten
geschlachtet wird. Damit das nicht passiert betet Jas zu Gott, er
möge ihren älteren Bruder anstelle des Kaninchens nehmen. Am
selben Tag bricht ihr Bruder beim Schlittschuhlaufen ins Eis ein
und ertrinkt. Die Familie weiß: Das war eine Strafe Gottes, und
alle Familienmitglieder glauben, selbst schuld an der Tragödie zu
sein. Jas flieht mit ihrem Bruder Obbe und ihrer kleinen
Schwester Hanna in ein Niemandsland voller
okkulter Spiele, in denen sie versuchen den Tod zu verstehen. Es
sind bitterernste und gefährliche „wie-fühlt-sich-tot-an-spiele“.
Aber diese Familie wird nicht nur durch den Verlust des Ältesten
gestraft. Hiobsches Ausmaß bekommt die Tragödie, als auch noch die Maul-und
Klauenseuche auf dem Hof ausbricht und alles Vieh getötet wird. Die Kinder fürchten
nun nichts mehr, als dass die Eltern eines Tages auf dem Dachboden am Balken
hängen. Rijneveld hat eine emotional schwer verdauliche Geschichte geschrieben mit
archaischen Zügen, Menschen, die in einer erdrückenden Religiosität leben mit
seelisch verwundeten Kindern. Kein Buch welches aufbaut aber es ist absolut
lohnend es zu lesen. Ich halte es, wegen seiner literarischen Außergewöhnlichkeit,
auch für eine Besprechung in einem Lesekreis, für sehr geeignet.
Das Buch ist 2019 bei Suhrkamp erschienen und kostet 22,00 €
„Das armenische Tor“ von Wilfried Eggers
Peter Schlüter ist endlich wieder da!
Sieben Jahre hat der Jurist und Autor Wilfried Eggers an seinem
neuen und gerade politisch sehr aktuellen Krimi gearbeitet.
Hauptfigur in Eggers Romanen ist der ermittelnde Anwalt Peter
Schlüter, der diesmal konfrontiert wird mit dem historisch tief
verwurzelten Konflikt zwischen Armenien und Aserbaidschan um
das umkämpfte Gebiet Bergkarabach sowie der Völkermord der
Türken von 1915 an den Armeniern.
Wie schon im vorherigen Krimi „Paragraf 301“, wird Schlüter
genötigt über seinen ängstlichen Schatten zu springen und ins
gefährliche Morgenland zu reisen, um zu ermitteln. Eigentlich
genießt er sein geregeltes und ruhiges Dasein in seiner
Anwaltspraxis in Hemmstedt. Er liebt seine Familie, die
nordischen Sprachen und steckt mit seinen Gummistiefeln tief und fest im
Hollenflether Moor. Schlüter ist kein Mann der großen Töne. Eher so nebenbei
kommen seine kritischen und scharfzüngigen Beobachtungen politischer und
menschlicher Missstände zu Wort. Ihm ist Wichtigtuerei, Verlogenheit und
Fanatismus verhasst, so dass die anwaltliche Robe nicht nur Ausdruck seines
Broterwerbes ist.
In seinem neuen Fall ruft ein Unbekannter in seiner Kanzlei an und bittet ihn um Hilfe
und noch bevor Schlüter einen Termin vereinbaren kann wird er am Telefon Zeuge,
wie der Mann ermordet wird. In der Tasche des unbekannten Toten entdeckt man
später einen Zettel mit armenischen Namen und türkischen Orten und eine Quittung
eines Cafés im Iran. Und wie es der Zufall will, bekommt Schlüter noch einen
weiteren „armenischen“ Fall auf den Tisch. Nach einer Veranstaltung türkischer
Völkermordleugner wird die Armenierin Anahid Bedrosian vergewaltigt und bittet
Schlüter um Hilfe. Schlüter ahnt den hundertjährigen Schatten, den der Völkermord
an den Armeniern wirft. Mit einer gehörigen Portion Angst im Gepäck und dem Segen
seiner Frau, reist er nach Täbris in den Iran, begleitet von Anahid, um das Geheimnis
des rätselhaften Toten zu lüften.
Mittlerweile hat Wilfried Eggers fünf Romane geschrieben, die ich alle sehr gerne
gelesen habe. Mit dem Krimi „Paragraf 301“ wurde er für den österreichischen
Friedrich-Glauser-Preis nominiert. Eggers Krimis kennzeichnen sich durch einen gut
recherchierten historischen Kontext. Seine Figuren sind zuweilen bissig, mit gutem
Humor und einer kleinen Prise Weltklugheit ausgestattet. Wilfried Eggers kommt hier
aus der Gegend. Er arbeitet als Anwalt und Notar und wer sich in und um Stade ein
wenig auskennt, wird die eine oder andere Anspielung schmunzelnd wiedererkennen.
Wilfried Eggers „Das armenische Tor“ erschienen 2020 im Grafit Verlag ,14 €
Andreas Izquierdo „Schatten der Welt“
Andreas Izquierdo lebt in Köln und hat 2007 mit dem Buch „Der König von
Albanien“ den Sir -Walter- Scott- Preis für den besten historischen Roman
erhalten. In dem Roman „Schatten der Welt“ entführt er den Leser in die
Zeit von 1910 bis 1918 .
Die Geschichte beginnt in Thorn in Westpreußen. Der schüchterne Carl,
der draufgängerische Artur und die freche Isi sind gerade 14 Jahre alt und
frohen Mutes, dass der Ernst des Lebens noch ein wenig auf sich warten
lässt. Nicht einmal die Nachricht, dass ein Komet namens »Halley« die
Menschheit zu vernichten droht, kann die drei Jugendlichen schockieren.
Im Gegenteil, ungerührt verkaufen sie Pillen gegen den Weltuntergang,
während Halley still vorbeizieht. Inmitten einer Gesellschaft, die von
Adligen, Großgrundbesitzern und dem Militär bestimmt wird, wächst
dieses unzertrennliche Dreigestirn auf. Nach der Schule beginnt Carl eine
Ausbildung zum Fotografen, Artur gründet noch vor der Volljährigkeit ein
Speditionsunternehmen, während Isi darum kämpft, Abitur machen zu
dürfen. Als 1914 die große Weltpolitik über sie hineinbricht, reißt es die Freunde auseinander.
Artur und Carl werden eingezogen, fernab der Heimat werden die beiden Teil eines Kriegs, der
jede Vorstellungskraft sprengt. Derweil ficht Isi zuhause in Thorn nicht minder schwere Kämpfe
aus. Sie stemmt sich gegen die Ausbeutung des hiesigen Großgrundbesitzers, sie wehrt sich
gegen ihren grausamen und karrieresüchtigen Vater und sie wird in Festungshaft genommen.
1918 ist der Krieg endlich vorbei. Nichts ist geblieben, wie es einmal für die drei Freunde war und
doch gibt es Hoffnung, ein Neuanfang scheint möglich.
Mitreißend mit viel Gefühl und liebevollen Blick für seine Figuren und historischen Kontext,
erzählt Andreas Izquierdo die Geschichte dreier Jugendlicher, die in den Wirren des frühen 20.
Jahrhunderts
ihren Weg suchen. Ich habe dieses Buch bis zur letzten Seite verschlungen und ich würde mir
wünschen, dass es einmal verfilmt wird. Für mich war es pures „Kopfkino“.
Schatten der Welt ist im Juli 2020 im Aufbau Verlag erschienen und kostet 16,00 €
Rita Körner
Tom Saller „Ein neues Blau“
Wer sich noch an „Wenn Martha tanzt“ von Tom Saller erinnert, eines
unserer Empfehlungen in der Buchhandlung, wird sich auf dieses neue
Buch freuen können. Beide Bücher spielen auf verschiedenen
Zeitebenen. Erneut beschreibt Saller das eben einer starken und
unabhängigen Frau auf der Suche nach sich selbst. Bei „Martha“ standen
die Zeit und die Umstände der Bauhaus-Ära im Mittelpunkt, in diesem
neuen Roman die Königliche Porzellan-Manufaktur in Berlin sowie die
japanische Teekultur.
Die 18jährige Anja bekommt von ihrem Lehrer den Auftrag, sich bei Lili
Kuhn als Gesellschafterin vorzustellen. Die alte Dame ist zunächst
überrascht, lässt sich jedoch auf die Besuche am Nachmittag ein und
findet bald Gefallen an den Treffen. Langsam fasst Lili Vertrauen, erzählt
aus ihrem Leben und bringt Anja das Töpfern bei. Ruhig, feinfühlig und
dennoch in sehr eindringlichen Bildern entfaltet sich Lilis Leben Schicht
um Schicht in den Jahren zwischen 1919 und 1932. Als junges Mädchen
lebte sie mit ihrem jüdischen Vater (die christliche Mutter ist verstorben) und dem Halbjapaner/-
chinesen Takeshi in Berlin. Lilis Vater betrieb einen Teehandel und hatte in Japan Takeshi
kennengelernt. Dieser war Lilis beständiger Freund und Beschützer und führte sie in die
Geheimnisse der Teekultur sowie der Kalligrafie ein. Lilli lernte zufällig den Direktor der
Königlichen Porzellan-Manufaktur, Freiherr von Pechmann, kennen und entdeckte dadurch ihre
Leidenschaft für die Porzellanmalerei. Sie wurde Schülerin der Bauhaus Absolventin in Keramik-
und Porzellangestaltung, Marguerite Friedlaender. Nach dem Umfalltod ihres Vaters, an dem sie
sich selbst die Schuld gab, brach sie jedoch die Ausbildung ab und verfiel in eine schwere
Depressionen. Erst durch den geduldigen jüdischen Psychotherapeuten Adam, den Lili später
heiratet, gelingt ihr die Genesung. Die Königliche Porzellan - Manufaktur in Berlin, gegründet von
Friedrich dem Zweiten, dessen Schöngeist für die Porzellanherstellung und die “Geburt” des
Farbton “bleu mourant” , verantwortlich ist, zieht sich wie ein “blauer Faden” durch die
berührende Erzählung und Lilis Leben. Geschickt verwebt Tom Saller geschichtliche Fakten mit
Fiktion.
Das Buch ist im August 2019 im List Verlag erschienen und kostet 20,- €.
Konstanze Weber-Feldmann
Ann Petry „The Street“
Liebe Leserinnen und Leser,
als im März alle Läden schließen mussten und ich im dunklen Laden saß
um meine kleine Abholstation zu betreuen, ist mir die Zeit dank eines
Hörbuches nie langweilig gewesen.
Ganze 11 ½ Stunden habe ich fast süchtig der Stimme von Bettina Hoppe
gelauscht, die den Roman „The Street“ eingelesen hat. „The Street“ ist
das sehr erfolgreiche Debut der Afroamerikanerin Ann Petry aus dem
Jahre 1946.
Es ist millionenhaft verkauft worden und im Frühjahr 2020 wurde dieser
Klassiker vom Verlag Nagel & Kimche neu aufgelegt. Der Roman erzählt
die Geschichte von Lutie Johnson, einer farbigen alleinerziehenden
Mutter. Lutie ist klug. Sie besitzt einen Schulabschluss, ist verheiratet und
hat einen kleinen Sohn. Von Anfang an ist ihre Familie von Geldsorgen
geplagt. Im Gegensatz zu ihrem arbeitslosen Ehemann, findet Lutie weit
entfernt eine Arbeit als Hausmädchen in einer reichen weißen Familie.
Große Ziele, Bildung, Erfolg und Geld sind das Credo der reichen
Oberschicht und Lutie beschließt, dass dies auch für ihr Leben gelten soll. Um die Reisekosten
der Heimfahrten zu sparen, fährt Lutie nur noch selten nach Hause. Manchmal vergehen
mehrere Wochen ehe sie ihren Mann und ihren Sohn Bupp sieht, was am Ende dazu führt, dass
die Ehe in die Brüche geht.
Lutie ist mit dem Kind auf sich allein gestellt. Zunächst kann sie noch bei ihrem kriminellen und
alkoholabhängigen Vater unterkommen, doch sie will weg. Raus aus dem Elend der Farbigen,
der mangelnden Bildung und den schlechten Lebensverhältnissen. Wie die „Weißen“ will sie für
sich und ihren Sohn den amerikanischen Traum vom Schmied des eigenen Glückes nicht
aufgeben. So bezieht sie in Manhatten in der 116th Straße eine schäbige
Dachgeschosswohnung.
Von diesem Schauplatz aus, verfolgen wir, wie dieser amerikanische Traum eben nicht für
Farbige gilt. Sich zu bemühen, fleißig zu sein, sich zu bilden führt nicht zum Ziel. Die
gesellschaftlichen Gegebenheiten, Rassismus, Sexismus und männliche Gewalt sind wie eine
Betonwand gegen die Lutie voller Wut und Verzweiflung ankämpft. Eingebettet in ihre eigene
Geschichte werden die Lebensgeschichten der Bewohner in der 116th Straße erzählt. Einer
Straße, die zum Symbol von Ausweglosigkeit und Zerstörung wird. Schon zu Beginn des Romans
lässt uns die Autorin ahnen, dass sich hier das Glück nicht finden lässt.
„Ein kalter Novemberwind jagte durch die 116th Street. Er rüttelte an Mülltonnendeckeln, saugte
Rollos aus halboffenen Fenstern und klatschte sie von außen gegen die Scheiben, und er
vertrieb zwischen Seventh und Eighth Avenue fast alle von der Straße, bis auf ein paar gehetzte
Passanten, die versuchten, dem wilden Ansturm vornübergebeugt die kleinstmögliche
Angriffsfläche zu bieten.“
Bettina Hoppe als Sprecherin dieses Hörbuches hat hier eine wahre „Meisterleseleistung“
erbracht. Ihre Stimme ist selten weich, sie gibt der Lutie das Kämpferische, das wütend
Aufbegehrende, dabei immer bemüht rechtschaffend zu bleiben und das Richtige für sich und
ihren Sohn zu tun. Wut, Hoffnung und Verzweiflung – Bettina Hoppe findet immer den richtigen
Ton.
Zur Person von Ann Petry möchte ich noch erwähnen, dass sie selbst als Farbige sehr privilegiert
in Connecticut aufgewachsen ist. Sie hat Pharmazie studiert und entstammte einer
wohlhabenden Apothekerfamilie. Erst als sie 1938 nach New York zieht erfährt sie Armut, Gewalt,
Ausbeutung und Rassismus gegenüber der schwarzen Bevölkerung.
„The Street“ ist im Februar 2020 neu erschienen und kostet 24,- €.
Das Hörbuch ist als MP 3 für 22,- € erhältlich.
Judith W. Taschler „Das Geburtstagsfest“
Judith Taschler, die vor einigen Jahren bereits mit „Die Deutschlehrerin“ -
im Übrigen ebenfalls ein Lesetipp- einen Bestseller landete, befasst sich
in diesem aktuellen
Buch mit den Geschehnissen zur Zeit der Roten Khmer in Kambodscha
und verknüpft hier ein grausames Kapitel der Zeitgeschichte sehr
geschickt mit der Gegenwart.
Der zwölfjhrige Sohn des aus Kambodscha stammenden
Hauptprotagonisten Kim Mey hat sich zum bevorstehenden 50.
Geburtstag seines Vaters eine besondere Überraschung ausgedacht: er
findet die Adresse der ehemaligen Leidensgenossin des Vaters heraus
und sendet eine Mail an Tevi mit der Bitte, als Überraschungsgast zur
Geburtstagsfeier seines Vaters zu erscheinen. Er erhofft sich, mehr aus
der Vergangenheit seines Vaters zu erfahren. Er weiß nur, was besonders
seine Mutter und Großmutter berichtet haben: dass sein Vater damals auf
der Flucht von Kambodscha nach Thailand das kranke Mädchen Tevi durch den Dschungel
getragen hat und diese damit gerettet hat. Von dort aus sind sie dann gemeinsam nach
Österreich geflohen, wurden dort von einer Familie aufgenommen und lebten dann gemeinsam
wie Bruder und Schwester dort, bis dann plötzlich und unerwartet der Kontakt abbrach. Warum?
Leider ist Kim alles andere als begeistert von der Überraschung: er ist Architekt, hat eine Frau
und drei Kinder und hat seit seiner Flucht 1979 stets versucht, seine
Vergangenheit hinter sich zu lassen. Er befürchtet nun, dass seine Zeit bei den Roten Khmer und
die wahren Begleitumstände jener dramatischen Flucht ans Licht
kommen und alte Wunden wieder aufbrechen. Durch das Erscheinen von Tevi wird Kim völlig aus
der Bahn geworfen. Im Gegensatz zu Kim erzählt Tevi, die als Fotomodell und UNO-Botschafterin
arbeitet, stets von ihrer Vergangenheit, denn ihre Familie wurde durch das Regime gerettet und
sie selbst überlebte nur durch Zufall.
Die Geschichte spielt auf mehreren Zeitebenen: die Siebzigerjahre in Kambodscha, die Achtziger
und Neunziger in Österreich und Frankreich und in der heutigen Zeit in Österreich. Wie
Puzzleteile fügen sich die Erinnerungsstücke zusammen und rekonstruieren eine Chronik der
Ereignisse seit 1970, in der die Biografien aller Beteiligten zusammenlaufen, langjährige Lügen
und Missverständnisse aufgedeckt werden und das schreckliche Ende einer großen Liebe
endlich abschließend verarbeitet wird.
Konstanze Weber-Feldmann
„Das Geburtstagsfest“ ist 2019 bei Droemer Knaur erschienen und kostet 22 €
John Ironmonger „Der Wal und das Ende der Welt“
Wir schreiben das Jahr 2020 und erleben zur Zeit eine weltweite
Pandemie, die uns keine/r je so vorausgesagt hat. Es war und ist uns
immer noch unverständlich, wie es dazu kommen konnte. Wir stehen
fassungslos vor dem, was jetzt zählt und sehen, dass unsere Welt nie
mehr so sein wird, wie wir sie noch vor wenigen Wochen erlebt haben.
In dem Buch von John Ironmonger, „Der Wal und das Ende der Welt“, das
vor einem Jahr bereits erschienen ist, erleben die Figuren dieser
Geschichte das, was auch wir zur Zeit erleben: in rasantem Tempo
verändert sich das gewohnte Alltagsleben von Grund auf. Wie reagieren
die Menschen in dieser Extremsituation? Ironmongers These lautet: wenn
die Welt untergeht, dann rücken die Menschen zusammen.
Es geht um ein kleines Dorf, eine Epidemie und eine globale Krise.
Die Geschichte spielt in England, genauer in St. Piran, einem kleinen
Fischerdörfchen in Cornwall an der englischen Südküste. Hier kennt jeder
jeden, alles geht geruhsam seinen Gang. Eines Tages wird ein junger Mann vom Meer an den
Strand angespült. Die Dorfgemeinschaft, bestehend aus 307 Einwohnern, kümmert sich liebevoll
um den „Gestrandeten“. John Ironmonger hat lauter
liebenswerte, leicht schrullige Charaktere erfunden. Die Landschaft und die skurrilen Figuren
erinnern zwar an Rosamunde Pilcher, doch bietet uns Ironmonger deutlich mehr als deren
ländliche Herzschmerz-Idylle. Keiner der Dorfbewohner ahnt, dass es sich bei dem Mann um
einen Banker handelt, der aus London geflohen ist, nachdem er feststellte, dass er offenbar
maßgeblich mitverantwortlich für den Zusammenbruch seiner Bank ist. Kurz nachdem der junge
Mann am Rande des kleinen Fischerdorfes aufgefunden wurde, strandet an der gleichen Stelle
ein Pottwal. Der Fremde, namens Joe, und die Dorfbewohner müssen beweisen, was
Gemeinsamkeit und individueller Verzicht tatsächlich bewirken kann. Der Beweis einer echten
Gemeinschaft steht an. Unter der Leitung von Joe schafft es das Dorf, den Wal zurück ins
Wasser zu befördern. Joe ist der Held und die Herzen der Dorfbewohner fliegen ihm zu.
Doch nun hat das von Joe entwickelte Softwaresystem einen globalen Kollaps prognostiziert.
Dieser Zusammenbruch würde, so die Prognose, ganz einfach beginnen, indem zuerst ein Teil
einer Lieferkette ausfällt und bald darauf weltweit Nachschubwege und Systeme
zusammenbrechen. Ein Grippevirus, das sich rasant ausbreitet, verursacht und beschleunigt
Chaos und totale Anarchie, schlimmer als zu Zeiten der spanischen Grippe von 1918.
Angesichts dieser Prognose entschließt Joe sich zu einer Rettungsaktion für das Dorf. Er
verwendet seine gesamten Ersparnisse, um dafür riesige Mengen an haltbaren Lebensmitteln zu
kaufen. Im Glockenturm der Kirche wird alles eingelagert. Denn - so lautet die immer
wiederkehrenden These: jede Großstadt ist nur „drei volle Mahlzeiten“ von der Anarchie entfernt.
Und die Grippe kommt. Gewaltig. Wie werden die Dorfbewohner reagieren? Wird es ein Hauen
und Stechen geben oder können die Menschen eine menschliche Seite offenbaren, der
existenziellen Krise mit Humanität begegnen?
Der Autor verzichtet auf eine überwiegend erzählende Beschreibung der Ereignisse. Stattdessen
nehmen wir teil an den Gesprächen seiner Romanfiguren und sind auf diese Weise als Leser eng
einbezogen in den dramatischen Ablauf des Geschehens.
Am Ende des Romans stellt sich heraus, dass die Dorfbewohner den Wal doch nicht retten
konnten. Sein Fleisch kann jedoch verwertet und bei einem großen Weihnachtsmahl zubereitet
werden.
Ist das alles, samt „Happy End“ vielleicht doch ein wenig zu weich gespült? Mag sein. Die
frappierenden Parallelen zur Pandemie, die wir gerade erleben, sind beeindruckend. Gefallen hat
mir die Grundidee und verbunden damit auch für unsere Zeit die Hoffnung auf Solidarität,
Hilfsbereitschaft und Menschlichkeit.
Anke Jährig
Das Taschenbuch ist im April im Fischer Verlag erschienen und kostet 12,00 €.
Davide Morosinotto „Verloren in Eis und Schnee“
Das Buch „Verloren in Eis und Schnee“ wurde von Davide Morosinotto
geschrieben. Es handelt von zwei Zwilligen, die im 2. Weltkrieg in
Russland um ihr Leben kämpfen. Wir befinden uns in Leningrad, Juni
1941, mitten im 2. Weltkrieg. Nadja und Viktor wohnen mit ihren Eltern in
einer Wohnung mitten in der Stadt. Als die Stadt Leningrad gefährdet ist,
muss der Vater gegen die Deutschen an der viel zu nahen Front kämpfen
und die beiden Zwillinge sollen mit den anderen Kindern aus der Stadt
evakuiert werden. Ihre Mutter gibt ihnen einen wichtigen Ratschlag mit auf
den Weg: sie sollen sich nie trennen. Doch schon am Leningrader
Bahnhof werden sie getrennt und verschiedenen Zügen zugeteilt.
Während Viktor an seinem Ziel, einem Bauernhof in Sibirien, ankommt,
wird Nadjas Zug von deutschen Bombern angegriffen. Als Viktor das
erfährt, begibt er sich mit ein paar Freunden auf die Suche nach seiner
Schwester.
Das ist der Beginn einer langen Reise mit vielen Gefahren und
Problemen. Deutsche Soldaten, die sie jagen und auch der russische
Winter, der an ihren Kräften zehrt. Die Zwillinge schreiben während der ganzen Zeit in ihr
Tagebuch. So wollen sie sich, wenn sie sich wieder treffen, ihre Geschichten erzählen. Viktor
berichtet auf diese Weise dem Leser von seinem Weg zu seiner Schwester und Nadja erzählt
vom Überleben auf einer Burg in der Nähe von Leningrad.
Ich finde das Buch toll, da es sehr spannend ist und man es sehr gut lesen kann. Aufgebaut und
gestaltet ist es wie die Tagebücher der Zwillinge, mit Bildern, Karten und handschriftlichen
Notizen. Wenn man erst einmal angefangen hat, kann man gar nicht mehr aufhören zu lesen.
Ich würde dem Buch fünf von fünf Sternen geben. Empfehlen kann ich es für Kinder im Alter von
12 bis 15 Jahren.
Terje Bröhan, 13 Jahre alt
Das Buch ist bei Thienemann erschienen (ISBN 978-3-522-20251-0) und kostet 18 €.
Carlos Maria Dominguez „Das Papierhaus“
Diese Erzählung beginnt mit dem wunderbaren Satz „Im Frühjahr 1998
kaufte Bluma Lennon in einer Buchhandlung in Soho eine alte Ausgabe
der GEDICHTE von Emily Dickinson und wurde an der nächsten
Straßenecke, als sie gerade beim zweiten Gedicht angelangt war, von
einem Auto überfahren“.
Bluma lehrte an der hispanistischen Abteilung der Universität Cambridge.
Bei dem Ich-Erzähler handelt es sich um Blumas aus Südamerika
stammenden Kollegen, der ihr Büro und ihre Vorlesungen nach ihrem Tod
übernehmen soll. Eines Morgens erhält der Erzähler ein an die
Verstorbene adressiertes Kuvert mit uruguayischen Briefmarken, ohne
Begleitschreiben, allerdings mit dem -real existierenden– Buch DIE
SCHATTENLINIE von Joseph Conrad. An dem Buch klebt eine
schmuddelige Kruste und die Blattkanten weisen kleine Zementpartikel
auf. In dem Buch entdeckt er eine Widmung von Bluma, datiert auf das
Jahr 1996, adressiert an einen Carlos, mit Bezug „auf die verrückten
Tage in Monterrey“. Nun ist die Neugier des Erzählers geweckt und er
beginnt, Nachforschungen anzustellen. Er erfährt die Adresse des Absenders und reist nach
Südamerika, um dem geheimnisvollen Carlos Brauer aufzuspüren, doch dieser scheint
verschwunden zu sein. Auf der Suche begegnet der Erzähler zwei von Carlos´ bibliophilen
Freunden, wovon der eine allein über eine Büchersammlung von 18.000 Exemplaren verfügt. Der
Leser erfährt einiges über Ordnungssysteme (z.B. nie Bücher von zerstrittenen Autoren
nebeneinander platzieren) oder dass das Lesen der Literatur aus dem 19. Jahrhundert bei
Kerzenschein angenehmer ist und dass man entsprechend der Bücher die passende Musik
auswählen kann, z.B. Wagner, wenn man Goethe liest. Der Erzähler erfährt durch diese Freunde,
dass Carlos noch weitaus mehr Bücher sein Eigen nannte und geradezu besessen war vom
Kaufen, Lesen und Sortieren seines „Schatzes“. Was dann passiert, warum er auszog in die
Lagune von Rocha, das sei hier nicht verraten. Erst zum Schluss wird aufgeklärt, warum die
Erzählung „Das Papierhaus“ heißt.
Der Autor beleuchtet die Bibliomanie aus verschiedenen Winkeln, beschreibt die Freude,
Bücherschränke von Bekannten zu inspizieren, den Aufwand, seine eigene Bibliothek in Schuss
zu halten, aber auch die zerstörerische Seite, wenn die Lesesucht und Sammelwut zur
Obsession wird.
Konstanze Weber-Feldman
Das Buch ist im Insel Verlag erschienen und kostet 8,00 €
Elisabeth Strout „Die langen Abende“
E.Strout, 1956 in Maine geboren, hat Jura studiert, aber früh erkannt,
dass sie lieber Schriftstellerin werden wollte - welch Glück für uns
Leser/innen.
In ihrem Buch „Die langen Abende“ treffen wir Olive Knidderridge wieder,
die einige von Ihnen vielleicht aus dem Buch „Mit Blick aufs Meer“
kennen, für das E. Strout 2008 den Pulitzer Preis erhalten hat.
Eingebettet in die Rahmenhandlung um Olive finden wir eine Sammlung
miteinander verbundener Kurzgeschichten, die sich in einer Kleinstadt in
Maine abspielen. Alltägliche Ereignisse und Einblicke in das
Zusammenleben der Bewohner werden sehr anschaulich geschildert. All
diese Personen sind verknüpft mit der Protagonistin Olive Knitterridge.
Olive Knitterridge, 70 Jahre alt, pensionierte Mathematiklehrerin,
inzwischen verwitwet, ist mit ihrer Einsamkeit und dem Alter konfrontiert.
Sie lernt Jack Kennison, ehemals Havardprofessor, kennen, dem es nach
dem Verlust seiner Frau ähnlich geht. Sie gehen das Wagnis einer
Beziehung im Alter ein und die Gedanken und Schwierigkeiten, die damit einhergehen, werden
sehr einfühlsam geschildert. Die Einsamkeit von Olive und Jack findet auch keine Linderung
durch ihre Kinder, denn beide haben ein gestörtes Verhältnis zu ihnen. Nach dem Tod von Jack
begleiten wir Olive weiter, lesen, wie sie mit dem Alter zurechtkommt und begleiten sie ins
Seniorenheim.
Olive ist wahrlich keine Sympathieträgerin, sie ist barsch, verletzend und mischt sich in alles ein.
Durch die anschauliche Schilderung ihres Innenlebens kommt man ihr aber sehr nahe, wird in
ihre Gedankenwelt hineingezogen und stellt dann erstaunt fest, dass man sie ins Herz
geschlossen hat. Es ist zu spüren, dass unter ihrer ruppigen Art eine empfindsame Seele zu
finden ist, die versucht, mit den Verletzungen des Lebens umzugehen. Mit zunehmendem Alter
gewinnt Olive die Einsicht, das Leben anderer gelassener zu nehmen.
Der Roman ist leicht erzählt trotz der schwergewichtigen Themen wie Verlust, Einsamkeit, Alter,
Tod und Reue. Diese Leichtigkeit bekommt der Roman auch dadurch, dass E. Strout das Fach
der Situationskomik meisterhaft beherrscht und man oft herzhaft lachen muss.
Ein Roman, der mit großem Einfühlungsvermögen und Mitgefühl auf die Menschen blickt und den
Wunsch in einem erzeugt, ähnlich liebevoll auf seine Mitmenschen zu blicken.
Karin Hartmann
Erschienen am 16.03.2020 im Luchterhand Verlag, 20 €
Willi Achten „Die wir liebten.“
Wer in den 60er Jahren geboren ist, durchlebt in diesem Buch noch
einmal die Welt der Eltern der Nachkriegsgeneration. Eine Zeit, in der die
Kinder gekleidet und genährt wurden, aber damit hatte es sich dann auch
schon. Milch wurde gegeben aber der Honig fehlte. Gefühle hatten am
Esstisch keinen Platz. So wie bei den Brüdern Roman und Edgar, die
Anfang der 70er, 13 und 11 Jahre alt sind und in einer westdeutschen
Provinz leben.
Erzählt wird die Geschichte aus der Sicht des jüngeren, sensiblen Edgar.
Der Vater ist Bäckermeister, die Mutter betreibt einen Toto- und
Lottoladen.
Die Ehe der Eltern geht in die Brüche als der Vater sich in die Tierärztin
verliebt und es kommt zur Scheidung, was in dieser Zeit noch als
undenkbar galt.
„Niemand aus der Familie, das wussten wir, hatte je seine Familie
verlassen. Trennung, Scheidungen gar, beging man in der Stadt, nicht im
Dorf. So schlecht eine Ehe sein mochte, sie hielt, wurde zumindest nicht aufgelöst. Sie wurde
gestützt durch ein Netz von Normen und Tabus. Eine Ehe war nicht nur ein Bund zwischen zwei
Menschen, sie war ein Pakt zwischen zwei Familien, und sie war auch eine Abmachung mit allen
anderen im Dorf, …“
Für die beiden Brüder beginnt mit der Scheidung, die mit allem Drum und Dran des damals
geltenden Schuldprinzips durchgeführt wird, eine soziale Abwärtsspirale bis eines Tages das
Jugendamt vor der Tür steht und die beiden in ein Heim steckt, dem „ Gnadenhof“, wo die
Methoden der Nazizeit fortbestehen.
Willi Achten beschreibt mit sehr viel Gefühl die Innenwelten dieser beiden heranwachsenden
Jungen. An manchen Stellen ist das Buch kaum auszuhalten. Es ist so temporeich erzählt, dass
man sich oft gehetzt fühlt und sich zwingen muss zu verweilen, damit diese intensiven Bilder, die
Willi Achten im Kopf erzeugt, nicht zu schnell an einem vorbeifliegen.
Dieses Buch wird auf jeden Fall zu den „Besten“ gehören, die ich in den vergangenen Jahren
gelesen habe.
Rita Körner
Das Buch ist im Februar 2020 im Hanser Verlag erschienen und kostet 22,00 €
David Garnett „Dame zu Fuchs“
Das Buch ist nicht neu. Es wurde bereits 1922 verlegt, allerdings unter
anderem Titel. Der Autor lebte von 1892 bis 1981. Er war nicht nur
Schriftsteller sondern auch Buchhändler, Verleger und Kritiker. Er gehörte
der legendären Bloomsbury Group um Virginia Woolf, E.M.Forster und
John M.Keynes an. Diese Menschen versuchten das verstaubte
viktorianische England in der ersten Hälfte des 20.Jahrhunderts
intellektuell und künstlerisch aufzumischen. D.Garnett hatte unzählige
Affären und pflegte einen boheminischen Lebensstil.
Der schmale Roman, eigentlich eher eine Novelle, handelt von einem
jungen Ehepaar, den Tebricks, die sich glücklich und verliebt ins ländliche
Oxfordshire zurückziehen. Wir schreiben das Jahr 1880 als das Paar
einen Spaziergang durch das oberhalb ihres Anwesens gelegene
Wäldchen macht. In der Ferne sind Signalhörner von Jägern zu hören,
Hunde bellen. Mr.R.Trebick möchte einen Blick auf die Jagdgesellschaft
erhaschen, seine Frau Silvia geborene Fox, findet keinen Gefallen an dieser Freizeitgestaltung
englischer Gentlemen. Richard geht zum Waldrand. In dem Moment ertönt ein Schrei und als er
sich umdreht ist etwas Unglaubliches geschehen: „Wo eben noch seine Frau gewesen war,
stand, mit leuchtend rotem Fell, ein kleiner Fuchs."
Erst nach geraumer Zeit, in der sie sich fassungslos anstarren, brechen beide in Tränen aus.
Dann steckt Richard seine Silvia unter die Jacke und bringt sie nach Hause. Die geifernden
Hunde erschießt er, das Personal entlässt er.
Rührend fürsorglich kümmert Richard sich um die ins Tier mutierte Gattin, die zunächst noch sehr
zivilisiert versucht in dem häuslichen Umfeld zu leben. So hilft ihr der Gatte in ein seidenes
Morgenjäckchen, dass sie nicht nackt herumlaufen muss. Aber bald siegt die Natur über die
Zivilisation. Sie will nicht mehr am Tisch sitzen, verschlingt die gefangene Taube auf Raubtierart,
versucht aus dem Haus und dem Garten zu fliehen. Richard, der sie beschützen will, versucht sie
einzusperren aber auf Dauer gelingt es nicht.
.Die Geschichte ist ausschließlich aus der Sicht von Richard erzählt, so dass ein Blick in die
Gedankenwelt von Silvia nicht möglich ist. Sie ist aber in den Handlungen zu erkennen. Sie
handelt, Richard versucht zu reagieren, aber er ist zum Scheitern verurteilt.
Charmant und leicht wird diese Novelle erzählt. Ohne erhobenen Zeigefinger und Moral. Und
doch steckt viel emanzipatorischer Wille hinter den Worten.
Anke Jährig
Das Buch ist im btb Verlag erschienen und kostet 9,99 €
Isabel Bogdan „Laufen“
Wie bewältigt man eine schwere Lebenskrise?Die Ich-Erzählerin, eine
Hamburger Musikerin, entscheidet sich fürs Laufen. Zunächst kostet sie
jeder Kilometer Überwindung, doch allmählich schafft sie mehr und mehr
Runden im Hammer Park, um am Ende einmal um die Alster gelaufen zu
sein.
„Laufen ist super, so schön stumpf, man muss gar nicht denken, ich kann
sowieso nur über das Laufen nachdenken und über meinen Körper und gar
nicht über den ganzen Mist…..Ich laufe mir die Grübelei weg.“
So macht sie sich auf den Weg, die Trauer und die Wut über den Suizid
ihres Lebensgefährten zu verarbeiten, um wieder zurück ins Leben und in
einen normalen Alltag zu finden.
Während ihrer Laufrunden gelingt es ihr, ihre Gedankenwelt zu sortieren und im unaufhörlichen
Selbstgespräch offenzulegen.
Was sich zunächst in Verzweiflung über Einsamkeit äußert
„...die haben doch keine Ahnung, wie hilflos man vor dem Bett steht und sich fragt, ob man jetzt
zwei Decken und Kopfkissen beziehen soll…., denn wenn man beide bezieht, sieht es so aus ,
als käme da noch jemand.“
oder in qualvoller Auseinandersetzung über Schuld und Schuldgefühle
„…ich muss aus dem Schulddenken herauskommen, es war deine Entscheidung….. Aber wie
soll das gehen?“
wandelt sich allmählich in Wut über gut gemeinte Ratschläge ´
„Was überhaupt nicht hilft, sind diese Sprüche: das Leben geht weiter und der ganze Quatsch,
was soll das denn heißen, natürlich geht das Leben weiter.“
Mit der Hilfe von Freunden, ihrem Quartett, der Liebe zur Musik und dem unermüdlichen Laufen
kehrt sie nach 2 Jahren zurück in ein Leben mit Perspektive und zukunftsweisenden Plänen, mit
Gedanken an eine neue Liebe, ans Tanzen und etwas „Schönem zum Anziehen“.
„Wie soll es weitergehen? Wie wohl? Vorwärts, nicht mehr im Kreis.“
In schnellem Tempo---(laufend)---dabei wahrhaftig, warmherzig und berührend, reich an
Metaphern und feinem Humor schreibt Isabel Bogdan über Leben und Tod, Trauer, Verlust und
das Leben danach.
Ein Buch, das trotz der Schwere der Thematik viele tröstliche und hoffnungsvolle Momente
verspricht.
Brigitte Seng
Das Buch ist bei Kiepenheuer & Witsch erschienen und kostet 18,00 €
Rita Körner • Breite Straße 18 • 21614 Buxtehude • (0 41 61) 704 39 30 • mrs.koerner@web.de